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Die von Diotima verkündete Inthronisierung der weiblichen Schönheit als verborgener Herrin über das All, die Natur, die Elemente, den Kosmos und mithin selbstredend auch über jene philosophische Lebensführung und Wahrheitssuche, die sie im gleichen Atemzug zu "ernüchtern" und auf noch Elementareres zu lenken versucht: das kennzeichnet die Rede im gegebenen Kontext eines sokratischen Männergastmahls zwar einerseits als eine von Sokrates zitierte und vorgeführte Variante einer diesmal "typisch weiblichen" doxa. Aber ist sie wirklich nur und vor allem das?

Festzuhalten bleibt einstweilen: Die Schönheit in ihrer ganzen Lebensweite und Fülle ist in Diotimas Empfinden wesentlich weiblich, sie erhöht sie zu einer souverän-"unbedürftigen" Primathea und alles Leben immer schon umfassenden und gleichsam "aus sich selbst heraus" gebärenden Allgöttin, während die übrigen Gottheiten dieser großen Gebärmutter namens Leben letzlich nur dienen, gleichsam derart Lehen dieses kosmischen "Weib-Leibes" sind wie die Teile dem Ganzen untergeordnet sind. Der ganze Kosmos soll, dies dringt mit jedem Wort der Rede Diotimas zu uns, wieder um diesen aphroditischen Zauber eines an und für sich liebreizenden Lebens kreisen, der schließlich seinerseits, und dem widerspricht kein Symposionteilnehmer, besonders unmittelbar der Regeneration und allseitigen Zeugung des Lebens, und damit auch dem Hüten einer ihm immanenten Heiligkeit dient.

Aus männlicher Sicht erscheint dieser feminine Anspruch als Hüterin des "ganzen Lebens" verständlicherweise unbescheiden und nicht ganz uneitel. Und in der Tat: Ist Eros aus Diotimas Sicht nicht auch deshalb ein so "wilder", "männlicher" und "roher Halbgott", weil und sofern er in Wirklichkeit keineswegs immer dieser weiblichen Schönheit "dient", ihre "besten Absichten" oft gar nicht versteht (oder zu oft die Erfahrung gemacht zu haben glaubt, daß der Feind des Guten diese "guten Absichten" sind), ja dieser männliche Eros vielleicht sogar überhaupt nicht dient, sondern - wie es insbesondere im Dionysoskult zu erfahren ist - seinerseits das Begehrte erobert und raubt, ja zuweilen sogar alle mühsam errichteten zivilisatorischen und moralischen Damm-Mauern in seinem ekstatischem Wahnsinn niederreißt, um dem schieren Willen zum lebendigeren Leben Bahn zu brechen? Weil Eros also gerade auch dieses "Unschöne" und "rohe Männliche" mit besonders unbeugsamer Kraft zu beschenken scheint und weil der erotisch befeuerte Geist und vielleicht noch mehr der aufgerichtete Phallus auch noch das vermeintlich "unbedürftigste" und schönste Weibliche am Ende noch schöner, noch ganzer und noch unbedürftiger macht?

Oder schielt Diotima überhaupt auf den Dionysoskult, wenn sie gegen einen "rauhen" und "männlich" verstandenen Eros Einwände vorbringt? Aber war nicht gerade dieser wilde ekstatische Dionysos als Gott des ungezähmten, entfesselten und wilden Lebens der Lieblingsgott gerade der griechischen Frauen? Geraten Aphrodite- und Dionysoskult in spätklassischer Zeit etwa in Konkurrenz zueinander? Oder vertritt Diotima, im Gegenteil, wenn auch in einem zeitgemäß verfeinert-sublimierten Diskurs, gerade diese ursprünglichen Anliegen eines uralten vital-elementaren Lebensritus gegenüber einer in mancher Hinsicht allzu aufgeklärten, lebensfernen und von männerbündischen "Tugend"-Philosophien dominierten Zeit? Wenn letzteres aber der Fall wäre, und manches spricht dafür, warum scheint aus Diotimas Erfahrung jenes übergeschlechtliche Eros-Verständnis als jenes durch alles gleichermaßen hindurchwirkende Begehren nach einem lebendigeren Leben, nach Vereinigung und Zeugung gleichwohl unannehmbar? Ist ihr die "geteilte" oder nur "zur Hälfte" verfügbare Welt etwa zu wenig, ist sie, wie ihre männlichen Hörer ohnehin vorschnell zu unterstellen geneigt sein dürften, von Natur her "unersättlich" (genau so wie Diotima ihrerseits die männlichen "Erosböcke" in ihrer Begierde für "unersättlich" hält)?

Vielleicht rühren diese Fragen in die verborgensten Schichten des Mysteriums des Lebens als großer Gebärmutter (gr.: hysteria), an deren ganzer Weite von Natur her die Frau sehr unmittelbar, der tief grabende Philosoph eher "theoretisch" teilhat, und in deren innere Lebensrhythmen und Alleinheitsgefühle nur die Mütter (und vielleicht noch philosophisch weitgereiste Hebammensöhne wie Sokrates) für Momente Einblick nehmen. Vielleicht aber sind, umgekehrt, Männliches und Weibliches vom Leben selbst in Wahrheit so untrennbar zusammengebunden, daß sie nur im heiligen Ritual der Vereinigung selbst wirklich "ganz", sozusagen "nur von Sinnen ganz bei Sinnen" sein können, um sich jener Wahrheit des erotischen Lebenstaumels hinreichend gegenwärtig zu sein - während diese ekstatische Erfahrung sich ihnen außerhalb dieses Ritus sogleich unwillkürlich in den Streit darüber auffächert, ob die arché nun weiblich "oder" männlich sei. Sokrates immerhin ahnt wohl, daß die Lebenswahrheit notwendig beides zugleich sein muß, eben eine lebendige Einheit von Einheit und Widerspruch.

Und wäre eine monadische Einheit ohne den aufbrechenden Widerspruch und das Andere als das Andere nicht ebenso der Tod des lebendigen Lebens wie die Polarität ohne ein Gemeinsames, aus dem wir als Lebewesen kommen und in das wir wieder einkehren? Beide Archen - Diotimas weibliche, das ganze Leben in sich tragende Allgöttin, wie auch jener elementare griechische Eros als universale, alles belebende Zeugungslust und Lebensenergie - "dienen" doch am Ende demselben Leben. Allein die Wahrnehmung dessen fächert sich - auf letztlich fruchtbare Weise - notwendig auf.

Auch wenn Diotimas anmutig verpackte Nadelspitzen gegen eine vom Leben abgehobene Philosophie in Sokrates (zumindest im Sokrates des Phaidros-Dialogs) kaum "den Richtigen" treffen, wie vielleicht auch im tapferen Achill nicht, der für sie aus bloßer "eitler Ehrsucht" und für "unsterbliche Tugend und solche hochklingenden Namen" gefallen sei - aus Diotimas Sicht eher nebensächliche Dinge. In ihrem untrüglichen Instinkt für das Leben in seiner Weite und lebendigen Fülle dürfte sie am wenigsten fehlen - auch wenn ihre stets implizierte Sehnsucht nach beständiger Harmonie und Schönheit, nach einer Inständigkeit ohne Tod, nach einem ewigen Tanz um den aphroditischen Liebreiz niemals ganz, sondern wohl immer nur "zur Hälfte" der Wirklichkeit des tragischen Lebens, den Erfordernissen der Polis oder der Notwendigkeit der unablässigen philosophischen Suche entsprechen mag.

Was die philiosophische Methode betrifft, so argumentiert Diotima gewiß in der Art des Sophisten Menon, wenn sie meint: "Keiner der Götter sucht die Weisheit oder begehrt weise zu werden, denn er ist es. Und auch wenn ein anderer weise, sucht er nicht Weisheit. Aber auch die Toren suchen selbstverständlich nicht Weisheit und begehren nicht, weise zu werden..." (204a). Was Diotima hier zum besten gibt, ist allerdings gewöhnliche doxa. Danach können weder Götter, noch wirklich Weise und erst recht nicht die Dummen, sondern allenfalls "Wahnsinnige" wie Sokrates ihr Leben damit vertun, immer "nur" die Schau der Wahrheit zu suchen, um darüber das aphroditische Leben zu vergessen, wo doch der labyrinthische Mensch, wie Nietzsche einmal sagt, nicht die Wahrheit, sondern immer nur seine Ariadne sucht...

Denn die einen, so glaubt Diotima, brauchen nicht zu suchen, weil sie die Weisheit "schon besitzen", die anderen aber können sie nicht suchen, weil sie gar nicht wissen, "wonach sie suchen" sollen. Entweder ist man also schon weise (sophós) - wie die Sophisten und auch Diotima von sich behaupten -, dann muß man nicht länger suchen, oder man ist es nicht, dann kann man aber Weisheit auch nicht suchen, geschweige denn finden, weil man gar nicht kennt, was man sucht. Das ist das geläufige Vorurteil des "gesunden Menschenverstandes" gegenüber dem sokratischen Philosophieren überhaupt.

Allein, es ist das genaue Gegenteil der Erfahrung des Sokrates, für den Wahrheit notwendig und immer wieder diese unablässige manische Suche selbst ist. Der Philosoph als der die Wahrheit erotisch Liebende weiß - im Gegensatz zum Sophisten, der glaubt, die endgültige Weisheit "zu besitzen" - gerade als beständig Suchender um die Grenzen seines Wissens; er erfährt allererst und vergißt am wenigsten das Wissen um sein Nichtwissen - und dies freilich ist ein durchaus entscheidendes Wissen, das den Menschen für das Leben in seiner ganzen Weite und Tiefe vielleicht allererst öffnet und zugleich die eigene Kontingenz erkennen läßt.

Auf Diotimas in sich bereits vollkommene und "unbedürftige" Allgöttin der Schönheit bezogen, bedeutet diese sinnige Analogie zumindest zweierlei. Aus Diotimas Sicht bestätigt es vielleicht nur einmal mehr: In dem Maße wie das reale Begehren nach weiblicher Schönheit, Vereinigung und Zeugung lebensweltlich jedes Philosophieren oder Erinnern an Lebensfülle und Intensität übersteigt und übertrifft, in dem Maße auch steht eben Aphrodites Rang über diesem Suchen und dem Rang der Männer-Götter. Während Eros als männliches Begehren also immer nach der Gunst des Lebens und der Schau des Schönen suchen muß, findet sich das Aphroditische selbst gleichsam immer schon als Objekt und Ziel dieser Begierde und dieser Suche vor, als jene von narzißtischen Skrupeln kaum angekränkelte Allebensgöttin, die selbst nicht einmal begehren muß, um begehrt zu werden.

In Sokrates' philosophischer Erfahrung stellt sich diese weibliche "Hierarchie" der Diotima freilich auch als trügerisch dar. Denn wer immer glaubt, bereits "im Besitz" der Weisheit, Wahrheit oder gar göttlicher Allfülle zu sein (was Diotima für sich und für ihre Allgöttin Aphrodite sogar kosmologisch in Anspruch zu nehmen scheint), der kann sich nur irren. Mag aus Diotimas Sicht die manische Philosophie und Suche des Sokrates auch als vergleichsweise "arm", "bedürftig" oder "lebensfern" erscheinen, so erlaubt doch sie allererst die Erfahrung, daß sich auch Schönheit und schiere Lebensfülle zuletzt nur dem offenbaren, der alles Verfügen-Wollen hinter sich gelassen hat - und eben deshalb manisch, abgründig und rückhaltlos liebt.

Eros ist also für Sokrates niemals und niemandes "Besitz", immer nur Wagnis, Werden, Erneuerung - und wie leiden die unglücklich Verliebten gerade daran... Aber aus eben dieser abgründigen Nichtverfügbarkeit des Eros erwächst - wenn wir das Bild von der philosophischen Wahrheitssuche noch einmal in den Bereich des vitalen Lebens zurückwenden - auch wohl gerade jene aktive und entschiedene Kraft, das Durchdringende und Penetrierende, welches das Erotische - auch dies ganz im Interesse des lebendigen Lebens - eben auch ist.

Die von Sokrates zitierte Rede der Diotima erweist sich insofern als keineswegs frei von sophistischen Momenten und Blindstellen. Denn was könnte, wenn wir Diotima einmal (zugegeben unangemessen) wörtlich nehmen, das wirklich "Bedürfnislose" selbst schon in Gang setzen? Nimmt man Diotima nur beim Wort - das Aphroditische wäre kein Liebreizendes mehr, sondern ein Grab! Aber vielleicht ist die Lebensmutter dies von Natur her tatsächlich auch und sogar notwendig... Der philosophische Stellenwert dieser Fragen scheint jedenfalls letztlich außerhalb jener "vollkommenen Monade" der aphroditischen Welterfahrung zu liegen. Aber Diotimas kühne Philosophie- und Eros-Schelte mag aus sokratischer Sicht in Details noch so ahnungslos erscheinen, einer Aphrodite pandemos bzw. der populären Auffassung, daß es eine weibliche Eitelkeit gibt, die nichts nach der Wahrheit fragt, sondern letztere am Ende auch nur nach ihrer Pfeife tanzt, wenn Aphrodite erst ihren Zaubergürtel angelegt beziehungsweise ablegt hat, redet Diotima keineswegs das Wort.

In Diotimas Darlegungen gerät der wild suchende, männlich schaffende und Leben zeugende Eros zwar einerseits zu einer "Lehnsform" der aphroditischen Allgöttin und einer (im Selbstempfinden) "unbedürftigen" Weiblichkeit - von daher erklärt sich auch die starke Nachwirkung des Symposions und insbesondere der Diotima-Rede auf die spätere christliche Liebestheologie eines Bernhard, die Braut-Christi-Mystik der Frauenorden oder auch auf die höfische Minne und deren ritualisiertem Regelwerk des Ritterlichen und Galanten. Aber andererseits ist nicht zu übersehen, daß für Diotima dieser männliche Eros zugleich axis mundi bleibt, also jene Weltachse, um den auch noch das unbedürftigste weibliche Liebesverlangen mit Vorliebe kreist. Diotimas Allgöttin unterscheidet sich insofern fundamental von jener späteren Lebensflucht und Erosfurcht im Namen des Willens zum "Ganzguten".

Diotima will nicht Askese, sondern eine umfassendere Lebensbejahung, sie will nicht die Sublimierungen oder jenseitigen Vergeistigungen, sondern gerade die dem Leben immanente erotische/aphroditische Energie mit allen Mitteln entfesseln, frei fließen - und zeugen lassen. Sie verschmäht, recht verstanden, keineswegs die männliche In- und Aufständigkeit, im Gegenteil, zuweilen muß sie selbst - wie Isis schon die Zeugungsmacht des Osiris ergriff und in ihren Schoß einführte, um die durstige Erde befruchtend zu überschwemmen - den "männlichen Eros", der sonst auf exzentrische Abwege gerät und das wirklich Belebende, den zeugenden Dienst am aphroditisch verzauberten Leben, vernachlässigt, auf fruchtbarere Bahnen zurücklenken. Schließlich verjocht Diotima, wie Aphrodite, stets sanft, spielerisch, und ihrerseits immer im Dienst an einem lebendigeren Leben - und dies entschuldigt vielleicht jede weibliche Eitelkeit, Selbstblindheit oder Philosophen- und Männerschelte. Diese Selbstblindheit ist vielleicht am Ende eine Auszeichnung, sozusagen ein "Trickster", der - sofern man nur den darin verborgenen Lebensruf vernimmt - immer in das eine Heiligste und Lebendigste ruft.

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